Illyrian^Prince
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"Der, der verzeiht, ist ein besserer Mensch"

Sa, 21. Aug 2004, 16:33

Im Norden Albaniens gehört die Blutrache immer noch zum Alltag


Bonn, 17.8.2004, DW-RADIO, Lindita Arapi

Albanien ist zwar schon seit dem Ende des Kommunismus auf dem Weg zum modernen, demokratischen Rechtsstaat. Doch noch immer gibt es Regionen, vor allem im vorwiegend katholischen Norden Albaniens, wo die Menschen am traditionellen Gewohnheitsrecht - "Kanun" - festhalten. Und das sieht auch Blutrache, (auf Albanisch – MD) "Gjakmarrja" vor. Und die kann über mehrere Generationen gehen. In der Vergangenheit sind sogar komplette Familien umgebracht worden. Zwar hat der Staat die Strafen für Blutrache vor drei Jahren verschärft, und es ist auch gelungen, mehr als 3.000 verfeindete Familien zu versöhnen. Doch ganz verschwunden ist die Blutrache noch nicht. Und selbst diejenigen, die sich für Versöhnung einsetzen, leben gefährlich, wie Lindita Arapi festgestellt hat.

Pal Hila steht jeden Morgen sehr früh auf und raucht seine erste selbst gedrehte Zigarette schon in seinem Schlafzimmer. Was bringt der neue Tag? Was werden die Kinder essen? Das sind seine ersten Gedanken. Das Haus verlassen kann er nicht, seit Jahren schon kann er keiner geregelten Arbeit nach.

Hila: "Den Tag verbringe ich hier drin. Wenn es Strom gibt, gucke ich Fernsehen, lese irgendwann eine Zeitung. Was soll ich sonst machen? Wie kann man, wenn man nicht in die Außenwelt gehen kann, ohne Angst leben? Wenn du mutig bist, kannst du rausgehen - und sterben!"

Seit neun Jahren lebt Pal Hila mit der Angst vor der Blutrache. Sein Zuhause ist ohne richtiges Dach, ohne Wasserleitung, auch die Stromleitungen sind nur schlecht isoliert. Weil er nicht arbeiten kann, versinkt die Familie des 54-Jährigen in Schulden. Die 30 Euro monatliche Hilfe vom Staat reichen bei weitem nicht zum Überleben. Gelegentlich verdient seine Frau etwas Geld mit Putzen. Sie kann sich frei bewegen, denn Frauen sind von der Blutrache ausgeschlossen.

Der Leidensweg der Familie begann 1995, als Pal Hilas Bruder bei einem Streit Mëhill Qyteti tötete. Der Täter kam zwar ins Gefängnis, doch die Familie Qyteti schwor Blutrache. Wie viele andere, die von Blutrache bedroht sind, floh Pal Hila mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen aus dem Gebirge in die Stadt. Mittlerweile hat sich aber dort in der Nähe auch die Familie Qyteti niedergelassen. Und vor zwei Jahren brachten die Töchter des Ermordeten Pal Hilas 17-jährigen Sohn Zefin um, nur wenige Meter vor seinem Haus. Die beiden Schwestern wurden daraufhin ebenfalls zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.

Obwohl enge Freunde beider Familien versuchen zu vermitteln, ist die Feindschaft zwischen den beiden Familien noch immer nicht beendet. Pal Hila muss also weiter um sein Leben fürchten. Er selbst will keine Rache für seinen Sohn Zefin. Mit müder Stimme sagt er:

"Der, der verzeiht, ist ein besserer Mensch, ihm gebührt Ehre, er ist sogar stärker."

Die Familie Qyteti will sich zu der Familien-Fehde nicht äußern. Ein Interview lehnt sie ab.

Auch wenn jüngste Statistiken einen deutlichen Rückgang von rund 70 Prozent der Fälle zeigen - Blutrache ist in Albanien nach wie vor präsent. Ursprünglich war sie typisch für die katholische Bergbevölkerung. Aber nach und nach sind auch Moslems betroffen. Die Behörden zählen allein in der Region Shkodra immer noch fast 300 in Blutrache verfeindete Familien. Mehr als 60 gelten als isoliert, das heißt, die männlichen Familien-Mitglieder wagen nicht, das Haus zu verlassen. Die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen können, ist in dieser Region zwar gesunken, doch es handelt sich noch immer um 30 Schüler.

Emin Spahija hat bis vor kurzem eine sehr aktive Nicht-Regierungs-Organisation geleitet, die derartige Familien-Fehden zu schlichten versucht: die Liga der Friedensmissionare Albaniens. Warum es nach wie vor Blutrache gibt, erklärte er in einem Interview mit der Deutschen Welle so:

"Die wichtigsten Gründe sind das schlecht funktionierende Rechtssystem und der fehlende Respekt vor dem Gesetz. Der Staat muss das rechtsstaatliche Bewusstsein in der Gesellschaft stärken. Viele haben Angst, ein Verbrechen zu melden, weil sei kein Vertrauen in die Justiz haben."

Anfang August wurde Emin Spahija unter mysteriösen Umständen umgebracht. Musste er seine Mission mit dem Leben bezahlen? Schließlich wagte er es, dubiose Vermittler-Organisationen offen zu kritisieren. Sie betrieben profitable Geldgeschäfte mit der Blutrache, so Spahija:

"Da sind Millionen Dollar im Spiel, die im Grunde an Organisationen gehen, die von der Blutrache profitieren. Diese Organisationen sind sogar daran interessiert, dass es keinen Frieden in Albanien gibt. Wenn es eine gemeinsame Arbeit aller Institutionen gäbe, die für das gemeinsame Ziel arbeiten - nämlich die Abschaffung der Blutrache -, dann wäre das auch ein realisierbares Ziel."

Auch Pal Hila hat mittlerweile das Vertrauen in den Staat und die Versöhnungs-Vermittler verloren. Die Angst, selbst als nächstes ermordet zu werden, hat ihn um Jahre altern lassen. Auch in die Polizei setzt er keine Hoffnungen:

"Die Polizei ist einige Male hier gewesen. Die sagen nur, das was sie sagen müssen. Aber was können sie tun? Die Hilfe vom Staat ist in diesem Fall sehr klein."

Pal Hila und seine Frau Lula haben trotz aller Leiden einen Lichtblick in ihrem Leben:

Sohn Emanuel ist gerade 6 Monate alt. Die stolzen Eltern sagen, er habe wieder Freude in den traurigen Alltag gebracht. (MK)

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Lars
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doppelt

So, 22. Aug 2004, 21:28

Dieser Text findet sich bereits in unserem Kanun-Thread:
http://albanien.ch/forum/phpbb/viewtopi ... =1204#1204

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